Hier und Jetzt
Sprache ist etwas Wunderbares, Sie ermöglicht uns Verständigung und gleichzeitig sorgt sie mitunter auch für Verwirrung. Bei ganz konkreten Begriffen wie Ball, Schnitzel oder Haus sind wir uns normalerweise einig, was damit gemeint ist. Aber selbst hier kann ein Ball schon so etwas Unterschiedliches sein wie ein Golfball, ein Tennisball, ein Fußball, ein Basketball, ein Gymnastikball oder sogar der Erdball. Das kann man mit anderen konkreten Begriffen durchaus so fortsetzen. Bei sehr abstrakten Begriffen wird es umso schwieriger. Wenn Sie fünf Psychologen fragen, was das „Selbst“ sei, bekommen Sie mindestens fünf Definitionen, mitunter sogar mehr.
Der Begriff des „Hier und Jetzt“ beispielsweise, wird in letzter Zeit immer öfter missbraucht. Die humanistische Psychotherapie und teilweise auch östliche Meditationsschulen verwenden den Begriff wirklich als Augenblick des Hierseins, als Augenblick der Wahrnehmung, akustisch, optisch, olfaktorisch, haptisch und gustatorisch. Darüber hinaus ist damit auch der volle Kontakt mit der Umwelt gemeint. Ich sehe mein Gegenüber wirklich, ich höre ihm bewusst und aufmerksam zu, ich spüre das dahinterliegende Bedürfnis. Für Martin Buber war das der echte ICH-DU-Kontakt, während er die meisten Alltagskontakte als ICH-ES-Kontakte verstand, womit gemeint war, dass hier das Gegenüber wie ein Gegenstand, eine Sache behandelt wird. Wirklich mit meinem Gegenüber in Kontakt sein, bedeutet auch, Hirn-Konzepte, Überlegungen und Vorannahmen zur Seite stellen zu können und ganz offen wahrnehmen zu können, was mein Gegenüber wirklich sagt. Wir könnten sagen, in so einem Augenblick spüre ich mein Gegenüber wirklich. Im Hier und Jetzt sein bedeutet, so verstanden, einen Moment der Klarheit, der Achtsamkeit, der vollen Wahrnehmung und des Mitgefühls.
Wenn Menschen den Begriff des Hier und Jetzt missbrauchen, wird häufig eine fehlende Entscheidungsbereitschaft oder Verantwortungsübernahme damit gerechtfertigt, dass man sagt: „Ich lebe im Hier und Jetzt“. Auch Prokrastination kann damit gerechtfertigt werden. Keine Entscheidungen zu treffen, einfach in den Tag hineinleben und nur das zu machen, worauf man gerade Lust hat, ist gewissermaßen aber das Gegenteil eines bewussten, achtsamen Lebens im Hier und Jetzt. Hier und Jetzt meint nicht einen Zeitraum von Stunden, Tagen, Wochen oder Monaten, sondern wirklich den Augenblick und zwar den ganz bewussten, hellwachen Augenblick, in dem ich mit mir selbst und der Umwelt voll in Kontakt bin, mit allen Sinnen, mit meinem ganzen Körper und mit all meinen Gefühlen. In solchen bewussten Momenten wird uns übrigens häufig auch sehr klar, was wir als nächstes tun möchten, was wirklich unser Bedürfnis ist und wofür wir selbst verantwortlich sind oder sein möchten.
Literatur
Buber, Martin (2002). Das dialogische Prinzip. Gütersloher Verlagshaus.